Als Hyon Soo Kim 1993 nach Deutschland kam, hoffte sie fiir sich eine
Ausdrucksméglichkeit zu finden, welche sie als Mensch und Kiinstler erfillen
konnte. Ihr Vater, ein bekannter Arzt, erlaubte es ihr in Korea _ nicht
Tanzerin zu werden und so machte sie eine Goldschmiedelehre. Weil ihr dieses
Handwerk zu enge Grenzen auferlegte, bewarb sie sich in Mitinchen an der
Akademie der Bildenden Kiinste mit vier kleinen Zeichnungen um Malerei zu
studieren. Sie wurde sofort angenommen. Die ersten Jahre in Munchen fihlte
sie sich fremd und unter den Kinstlern namenlos. Nach einer gescheiterten
Ehe lebte sie alleinerzichend. Kleine Zeichnungen§ sind die einzigsten
Ausdrucksméglichkeiten. Sie wirken heute wie das Protokoll einer langsamen
Offnung aus einem tiefen, verschlossenen inneren Raum: Zarte
Bleistiftstriche mit wenig Aquarellfarbe bewegt ineinanderverwoben, — sich
gegen duBere Grenzen wehrend.
Doch schon bald tauchen in den Zeichnungen umhiillte GefaéBe und Kokons auf,
die kopfiiber durch den Bildgrund schweben. Ab 1995 umwickelt Hyon Soo Kim
mit Gipsbinden Glaser, Vasen, Schuhe und stellt diese verfremdeten Objekte
auf den Kopf. Der Tod hinterlieS in ihrer Kindheit einen tiefen Eimdruck auf
sie. Sie besah sich die Leichen ihrer verstorbenen Verwandten, was fir
Kinder damals verboten war. Gleichzeitig fasziniert und schockiert erlebte
sie ein Geheimnis, dem sie seither auf der Spur ist. Korper, Stadte, die
Erde sie sind Rdume, GefaBe, bergende und gleichzeitig verletzbare Orte.
Hyon Soo Kim _ verwandelt ein Stiick Alltagsrealitét, stellt Dinge auf den
Kopf, beraubt sie ihrer Funktion und stellt damit eine neue Autonomie als
Form her. Die einheitliche weife Haut macht Glaser, Vasen, Revolver, Tiere
zu einer Familie von Gleichen. Wie im dgyptischen Totenkult wird der Kérper
mit schmalen Binden umwickelt. Die Umwicklung der Gegenstande ldscht ihre
physische und individuelle Prasenz, wie sich bei der Mumifizierung § der
soziale Stand des Toten auflést.
Mit den Jahren verwandelt Hyon Soo Kim ihre Objekte in immer grdfere
Dimensionen. Die gewonnene Monumentalitét erobert sich zunehmend die
Kunstszene. Deutschlandweite Beachtung fanden ihre drei “Mumien? 2000 im
Kreuzgang des Erfurter Domes. In dieser meditativen Inszenierung zeigt Hyon
Soo Kim sich als Grenzgangerin zwischen Ost und West und macht die
unterschiedlichen Kulturen erstmals durchlassig auf Gemeinsamkeiten hin. Mit
ihrer Umwicklung thematisiert sie den Inhalt. Der Kelch spielt in der
christlichen Messen eine zentrale Rolle. In ihm findet die Verwandlung von
Brot und Wein statt und genau diese Verwandlung und Metamorphose ist auch
der Grundgedanke der Skulpturen. Sie sind nicht mehr das was sie waren, die
Umhillung, die weife Farbe machen sie zu _ selbststandigen Energietriagern. Die
drei riesigen weiBen Skulpturen von auf dem Kopf gestellten Glasern im
stillen Schatten des ehrwiirdigen wmittelalterlichen Kreuzganges waren die
meist publizierten Aufnahmen des von Markus Wimmer kuratierten Projektes
“Klangschatten? mit sieben Kiunstlern in ftinf Erfurter Kirchen und machten
Hyon Soo Kim weithin bekannt.
International ausgestellt und beachtet wurde die Inszenierung “MARIA.
(allen Miuttern der Welt)’. Leicht unterlebensgroBe Mutter-Kind-Gestalten,
sind in ihren Haltungen und Posen aus unterschiedlichen Kulturen kommend
hier in ihrem Muttersein vereint. In verschieden farblicher Zusammenstellung
umwickelte sie Hyon Soo Kim mit schmalen bunten Bandern aus koreanischem
Stoff. Ihre Individualitat geht dadurch verloren. Bandagiert sind Mutter und
Kind untrennbar miteinander verwoben, verstrickt. Sie bevélkern Kirchenréume
und Museen, Galerien und Platze, kauern am Rande, stehen in der Mitte,
bilden schweigend Gruppen und Griippchen. Die Umwindungen in den_ stark
kontrastierenden Farben erwecken die Suggestion, als drehten sich die
Figuren, als tanzten sie den Tanz ihrer Geschichte, der Geschichte thres
Volkes, ihrer Familie, ihrer Kultur. Hyon Soo Kim gelingt es ei Denkmal zu
schaffen: allen Miuittern der Welt, ohne Ansehen ihrer Religion oder ihres
sozialen Standes. Thr gelingt eine interkulturelle Meditation zum
anthropologischen Bild der Mutter auf der Grundlage heutiger Welt- und
Zeiterfahrung. Thre Meditation schlieBt die Verletzlichkeit und Bedrohung
mit ein. Diese bunte und bewegte Versammlung der Mitterbilder aller Welt
hebt alle mit Muttersein und Kindheit zusammenhangenden Freuden und Leiden
in einen groBen, der gesamten Menschheit gewidmeten Denkmalraum: Ein Raum
der Erinnerung des _ universalen Miutterbildes als interkulturelles Gedachtnis.
Hyon Soo Kims GefaBthema bekommt in M.A.R.I.A. eine Frucht. Durch das Kind
bricht die Urform auf, teilt sich, beginnt zu tanzen. Auch sind zum _ ersten
Mal die Binden vielfarbig, in die GefaBform fahrt Bewegung, sie scheint sich
ZU befreien, “auszuwickeln?.
Der bisherige Héhepunkt der bildhauerischen Arbeit von Hyon Soo Kim ist die
Installation “Singender Lotus*: Eine wtberlebensgrobe weibe Lotusbliite glanzt
und strahlt, faltet sich in unendlicher Langsamkeit auf. Die Form der Bliite
ins Monumentale gesteigert, ladt ein, bildet einen Versammlungspunkt und
einen Mittelpunkt, schafft einen geistigen Raum. Die Lotusbliite
reprasentiert in der asiatischen Kultur das Symbol der Simultanitat von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie bliht und gleichzeitig reifen ihre
Friichte. Das bertihmteste Mantra des Buddhismus “O Mani Padme Hum besingt
die Unergrindlichkeit dieser mystischen Blume. Die technische VergrdéBerung
der Lotusblitte als Aluminiumskulptur markiert den kulturellen Transfer
zwischen Ost und West. Zum Leben erweckt wird die Skulptur durch eine
Performance: Hyon-Soo Kim und E. Byok-Song Woo bauen eine Brticke zwischen
dem buddhistischen Ritual der 108 Verbeugungen vor der Lotusbliite mit
Liedern von Richard Wagner, welche E. Byok-Song Woo am _ SchluB der
Performance vortragt. Die Zahl 108 steht in Asien fiir die 108 Leidenschaften
und Qualen. Das Ritual wird gemeinsam mit den Besuchern schweigend
ausgefiihrt und dauert zwischen 20 und 30 Minuten. E. Byok-Song Woo
durchbricht die Verinnerlichung der Stille, indem er Amfortas Arie aus
Richard Wagners Parsifal oder Wolframs Arie aus dem Tannhduser intoniert. Im
Tannhauser heiBt es „“Blick‘ ich umher in diesem edlen Kreise, welch hoher
Anblick macht mein Herz erglihn! S Da blick‘ ich auf zu einem nur der
Sterne, der an dem Himmel, der mich blendet, steht: es sammelt sich mein
Geist aus jener Ferne, andachtig sinkt die Seele in Gebet.“. Die Verbindung
der Lieder von Richard Wagner mit einer strengen und auch anstrengenden
buddhistischen Praxis im Zeichen der Lotusbliite ist eime visiondre
interkulturelle Aktion, mit der das Ktinstlerpaar durch die Welt reisen wird.
Die Performance kombiniert nach dem Prinzip der sozialen Plastik, welche
Joseph Beuys entwickelte, kulturelle Symbole und_ religidse Rituale des
Ostens mit Kulturgut des Westens. Die mitwirkende Teilhabe des Publikums
fihrt eine Verdnderung herbei, welche durch das Betrachten des Kunstwerkes
alleine nicht mdglich ware. Die Verbeugungen machen sensibel fiir Achtsamkeit
und Hingabe mit der positiven Symbolkraft der Lotusbliite, welche die
Skulptur ausstrahlt. Die Transformation des Menschen durch Kunst wird
praktisch getbt und wirkt von hier weiter ins Leben. “Singender Lotus?
verlaBt die vordergriindige Autonomie der Kunst und knipft an den
universelleren Urgrund, den geistigen Inhalt des GefaBes an. Damit bekommt
das Kunstwerk eine Kraft und einen Resonanzraum, welcher weit in die
spirituelle Geschichte des Menschen zurtick reicht. Hyon Soo Kim _ liftet
hiermit das Geheimnis ihrer GeféBe: Die Knospe springt auf, verstrémt ihren
Klang, setzt das Innere frei, schafft Interaktion, ladt den Schauenden zum
Mitspieler ein. In ihrer Genealogie vereint der Lotus als Butte und Frucht
den bildhauerischen Prozess ihrer Kunst mit dem inneren Ziel ihrer Reise,
ohne dass dies eine Ende ware. Das GefaB steht nicht mehr auf dem Kopf und
ist geschlossen, es hat sich aufgetan, ist durchlassig geworden. “Singender
Lotus? _—vereint~=Rituelles Mittun, Klang und Skulptur zu einem
interkulturellen Gesamtkunstwerk.
Hyon Soo Kim hat ihren Ausdruck gefunden, indem sie sich selbst als Gefaß
erfuhr, als Mensch, als Mutter, als Kinstlerin und Partnerin.

